Gegen Spätnachmittag wurde unsere Siedlung, in welcher auch viele Flüchtlingsfamilien lebten, von US-Soldaten besetzt. Ein jugendlicher Bewohner des Lerchenwegs hat mit weißem Taschentuch in der Hand mit Ihnen den Kontakt aufgenommen. Bei uns wurde kurze Zeit später mit dem Gewehrhalfter an die Tür geklopft und der Feind stand davor. Meine Mutter wurde mit Madam angesprochen. Sie schauten sich kurz um und schrieben mit Kreide etwas an die Tür, wo die Zahl „9“ eine Rolle spielte.
Diese 9 Soldaten zogen kurze Zeit später in unser Haus ein, in welchem meine Mutter, ich und eine 3-köpfige Flüchtlingsfamilie (Kinder 9,11,12 Jahre) wohnten. Von dem üppigen Abendessen, bestehend aus Konserven, bekamen wir auch etwas ab. Den Kindern wurde die Stube zum Aufenthalt und Schlafen zugewiesen, nachdem wir die letzten Nächte im Keller zugebracht hatten.
In der Dunkelheit wurde auf den Wachposten, der vor dem erleuchteten Fenster des Zeisigweg 13 stand geschossen. Zum Glück wurde niemand verletzt. Der Unglücksschütze wurde jedoch sofort erschossen. Diese Nacht verbrachten meine Mutter und Frau Mattner unbelästigt, sitzend auf dem Küchensofa. Ein Soldat hielt sich auf dem Fußboden auf. Die beiden Mansarden waren für uns tabu. Es wurden Schränke durchsucht, wonach diverse Dinge wie z.B. 2 Ordner aus den Jahren 1870/71, Haarschneideschere und Rasierzeug fehlten. Unsere Wertsachen hatten wir bereits im Schuppen vergraben.
Am Morgen zerschlug ein Soldat den Gewehrkolben des Schützen am Pfahl des Nachbarn am Gartentor. Die Anwohner vom Krähenweg u.a. L. Hübner begruben den Mann in der Lehmgrube. Er wurde Jahre später exhumiert. Die Kinder der Umgebung sammelten die halb aufgerauchten Zigaretten für ihre Großväter auf. Überall lagen die Waffen (Panzerfäuste) der geflüchteten deutschen Soldaten umher. So kam es oft zu Unfällen mit Kindern, deren Folgen heute noch existieren.
Die Panzer fuhren in die Lehmgrube der Ziegelei Höfer. Wir Jungs standen auf den Wegen und schauten zu. Später wurde die Mulde zum Grenzfluss zwischen den Russen und den Amerikanern. Den ersten Russen habe ich zuerst gehört und dann erst gesehen. Kurze Zeit später zogen die Russen bei uns ein, welch ein Unterschied. Er kam auf einem Fahrrad mit Plattfuß. Fahrräder, soweit noch vorhanden, konnte man nicht mehr auf der Straße zeigen, sie waren sonst sofort weg. Einer hatte unserem Flüchtlingsjungen die Brille weggenommen, durchgeschaut und nichts gesehen. Das war sein Glück. Der weinende Junge bekam seine Brille wieder. Es begann die schwere Nachkriegszeit. Für uns Kinder begann erst am 01.Oktober wieder die Schule, mit großen Unterbrechungen im Winter und sehr jungen Lehrerinnen und Lehrern sowie ohne Internatsbetreuung.
Dieser Brief wurde uns zur Verfügung gestellt von Herrn Hermann Ulrich vom Zeisigweg. Für diesen wertvollen Beitrag, welchen wir im Siedlerblick veröffentlichen durften, bedanken wir uns recht herzlich.
Vielen Dank sagt der Vorstand